Die Goa-Parties boomen - Elfentanz auf der Enterprise

Woodstock war gestern, Goa ist noch immer. Und wie: In der Mark Brandenburg vertreibt der Geist der Hippies sogar die Nazis.

von MATHIAS BRÖCKERS

Hey Leute, braucht ihr was? Pilze, Pillen, Pappen?" Kaum hatten wir den Kofferraum geöffnet, um Zelt und Schlafsäcke zu entladen, war der freundliche junge Mann schon da. "Danke, wir sind versorgt." - "Na dann steht ja einer schönen Party nichts im Wege, viel Spaß!", lächelt er und zieht weiter. Als unser Zelt steht und wir über den Platz zu einer der Bühnen gehen, kommen uns zwei lächelnde Frauen mit einem Schild entgegen: "Free Hugs" - kostenlose Umarmungen. Aber gern. Auf einer primitiven Alkoholistenparty wie dem Münchner Oktoberfest würden solche Offerten wohl als Aufforderung zur Vergewaltigung gelten.

Aber hier, auf der Wiese zwischen Berlin und Hamburg bei einem Goa-Festival, sind wir zusammen mit einigen tausend anderen in einer Zeitmaschine gelandet - vierzig Jahre nach Woodstock, dem legendären Hippie-Festival "of love, peace and music" wird ebendieser Spirit von einer neuen Generation gelebt und zelebriert. Mit einer anderen Musik, mit einer fortgeschrittenen Sound- und Lichttechnik, aber mit denselben Werten, im selben Geist - und mit denselben psychedelischen Substanzen. Magische Pilze, herzöffnende Ecstasypillen, bewusstseinserweiterndes LSD und entspannender Hanf - allesamt ebenso illegal wie mit dafür verantwortlich, dass auf Goa-Open-Airs zehntausende Menschen ausgelassen feiern, abtanzen und sich umarmen lassen können, ohne dass es zu Aggressionen kommt.

Das Open-Air-Konzert in der Nähe von Woodstock im August 1969 erlangte weniger als schlecht organisiertes Ereignis selbst, sondern durch die erfolgreiche Vermarktung der Platten- und Filmmitschnitte seinen mythischen Status als "Höhepunkt der Hippiekultur". Doch anders hätte es vielleicht nie in die deutsche Provinz vordringen können und zusammen mit dem Film "Easy Rider" 15-Jährige wie mich innerhalb von zwei Wochen vom Pfadfinder zum Hippie mutieren lassen. In den USA indessen markierte Woodstock mit der Vermassung und Kommerzialisierung eigentlich bereits den Niedergang der Ideale jener Subkultur, die fünf Jahre zuvor bei der legendären Reise des "Kuckucksnest"-Autors Ken Kesey und seiner "Merry Pranksters"-Kommune im Land verbreitet worden war - wie von Tom Wolfe in seinem gerade wieder aufgelegten "Electric-Kool-Aid-Acid-Test" kongenial beschrieben und von den dafür schnell gefeuerten Harvard-Professoren Timothy Leary und Richard Alpert ("Die Politik der Ekstase") seinerzeit wissenschaftlich propagiert.

Hippie - das war nicht nur Liebe, Natur, Spiritualität und Musik, sondern auch Autonomie, Selbstverwaltung und Freiheit: Politik. Freilich eine, die vor die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse die Änderung des individuellen Bewusstseins und des eigenen Verhaltens setzte.

Der These des Philosophen und Soziologen Edgar Morin, der 1970 in seinem "Kalifornischen Tagebuch" schrieb: "Ich gehöre zu jenen, die den Aktivismus des Parteikämpfers für reaktionär halten; was revolutionär ist, ist der existenzielle Kämpfer, die Kommune, das Rock-Festival, das Love-in", lässt sich angesichts des in die brandenburgische Prignitz verlängerten Woodstock-Feelings der Goa-Festivals nur beipflichten. Die Polit- und Parteiparolen von 68 sind nach 40 Jahren mausetot, der Hippiegeist aber feiert fröhliche Urständ.

Und das im Wortsinne, denn nichts anderes als ein sehr archaischer Urzustand ist es, zu Tausenden bei Vollmond auf der Wiese tanzend die kollektive Ekstase zu suchen. Dionysos, die Mysterien von Eleusis und die Walpurgisnacht lassen grüßen, ebenso wie der tanzende Schiwa und das Götteruniversum des Hinduhimmels. Ihre Bilder sind in den Bäumen aufgehängt, leuchtende, von UV-Licht bestrahlte Fäden durchziehen die Büsche am Wegrand, viele tragen fluoreszierende T-Shirts, einige haben sich als Feen oder Elfen verkleidet, mit spitzen Ohren wie Mr. Spock - wir sind im Zauberwald und gleichzeitig im Technozeitalter, und von Ferne wummert schon, was diesen Elfentanz gleich in Richtung "Enterprise" torpedieren wird: Drums & Bass.

Eine schöne Beschreibung der Musik, die auf Goa-Festivals läuft, gab einst ein Feuerwehrmann, der nach dem Weg dorthin gefragt wurde: "Meinen Sie die Party, wo drei Tage lang dasselbe Lied gespielt wird?" Für Außenstehende mögen sich die monotonen 4/4 der Goa-Musik tatsächlich so anhören. Auf dem Dancefloor indessen, beschallt von riesigen Soundtürmen und im Gewitter blitzender Laser ist das etwas ganz anderes.

Wenn der Beat aussetzt, wenn es aus den Lautsprechern nur noch blubbert, raschelt oder zirpt und sich dann im Hintergrund langsam ein sirrender Ton aufbaut und lauter wird und höher und die Tanzenden warten, sich ausschütteln, einen Schluck Wasser trinken und immer noch warten und das Sirren des Raumschiffs noch eine Stufe höher schwingt und lauter wird und die Leute zu jubeln beginnen, gleich ist es geschafft, der DJ streckt den Zeigefinger nach oben, ganz weit hinten setzt ein tiefer Bass ein, das Sirren geht noch eine Stufe höher, wird nochmals lauter, die Vocoder-Stimme eines Aliens verkündet: "Dont waste your time", für zwei Takte, weniger als eine Sekunde und doch eine Ewigkeit, setzt die gesamte Musik aus - und dann kommt er, mit der Urgewalt von 30.000 Watt, Gottvater persönlich, mit dem alle Musik, jeder Tanz, jede Trance anfing, seit erstmals ein domestizierter Primat zwei Holzstücke monoton aufeinanderschlug: der Beat.

"Ob Rhythmus, ob Droge, ob das moderne autogene Training - es ist das uralte Menschheitsverlangen nach Überwindung unerträglich gewordener Spannungen, solcher zwischen Außen und Innen, zwischen Gott und Nicht-Gott, zwischen Ich und Wirklichkeit - und die alte und neue Menschheitserfahrung, über diese Überwindung zu verfügen." Auch Dr. Gottfried Benn, der dies 1949 schrieb ("Provoziertes Leben"), könnte sich bestätigt fühlen, hätten wir ihn 60 Jahre später aus seiner Praxis am heutigen Mehringdamm in Berlin-Kreuzberg auf die "Antaris", die "VuuV Experience" oder das "Spiritual Healing"-Festival im Brandenburgischen entführt: Auch hier geht es, angetrieben von einem Trance induzierenden Rhythmus, "um eine erregende, das Einzelwesen steigernde Kommunikation mit dem All".

Und so alt das Verlangen, aufzugehen zwischen Himmel und Erde, so archaisch die mit den Mitteln der Technomoderne verstärkte Methode - der Rhythmus -, so uralt sind auch die pflanzlichen Beschleuniger dieser Art von Kommunikation: der Fliegenpilz, das archaische Glückssymbol aus dem Wald, der spitzkegelige Kahlkopf (Psilocybin) oder das Mutterkorn (LSD).

Solche Pilze beziehungsweise das auf Löschpapier ("Pappe") geträufelte Alkaloid des Mutterkorns, LSD, waren auch schon die bevorzugten psychedelischen Treibmittel der Hippies, die Ende der 60er von Kalifornien in den westindischen Bundesstaat Goa zogen. Bei ihren Partys am Strand spielten sie anfangs noch die Musik der aus Ken Keseys Acid-Tests hervorgegangenen Grateful Dead, bis dann mit dem Aufkommen computerbasierter Technomusik Pioniere wie Goa Gil begannen, psychedelischen Rock mit Computerbeats und anderen Klängen zu kombinieren und weiterzuentwickeln.

Dazu gehörte auch Raja Ram, ein ehemaliger Jazzrocker der 60ies-Band "Quintessenz", der heute mit 1200 Micrograms weltweit Goa-Festivals rockt. "Psychedelic Trance" oder "Psytrance" wird dieser Musikstil genannt, der als Hybrid Schamanenrasseln und Sitarklänge mit Techno-Drums und Science-Fictions-Sounds vermählt. Er kann es, was die Tanzbarkeit betrifft, durchaus mit Santanas Woodstock-Highlight "Soul Sacrifice" aufnehmen.

Und wie die Musik hat sich auch das Setting der Partys weiterentwickelt, von der Frontalbeschallung in Woodstock zu weiträumigen Geländen mit meist mehreren Dancefloors, farbigen Dekos, Visuals und Laserprojektionen sowie ruhigen Chill-out-Zonen, in denen der Beat auf Minimal oder Ambient gedrosselt ist. Oder ganz ausgeschaltet, wegen einer Tai Chi Session.

Nachdem die indische Bundespolizei Anfang der 90er-Jahre gegen die Partys in Goa vorging und die Alt- und Neohippies vertrieb, um aus ihrem Ferienparadies eine Art indisches Mallorca zu machen, wurde die Partykultur nach Europa exportiert. Auch in Japan, Australien und Israel existiert eine starke Goa-Szene, in Deutschland liegt ihr Schwerpunkt im Nordosten: Allein sechs große Festivals fanden diesen Sommer entlang dem "Goaway", der A 24 zwischen Berlin und Hamburg, statt. Unter den argwöhnischen Augen der Polizei, die zwar auf den Zu- und Abfahrten von Goa-Festivals gern ihre Erfolgsstatistiken in Sachen Drogenkontrolle aufbessert, off the record aber auch zugibt, dass es hier mit zigtausend tanzenden Neohippies weniger Probleme gibt als auf jeder mittleren Dorfkirmes.

Viel besser als Nazi

Entsprechend kritisch wurden die Partymacher auch anfangs beäugt, als sie Mitte der 90er in der Region geeignete Locations pachten wollten. Häufig hätte es Probleme gegeben, aber mittlerweile, erzählt eine der Organisatorinnen der "VuuV", seien sie absolut wohlgelitten. Nicht nur kommerziell, wegen des Umsatzes, den vier Tage mit 8.000 Campinggästen ringsum bescheren, sondern auch kulturell: "Wir haben die Nazis weggebracht!" Die Landjugend hat dank der Goa-Partys ringsum entdeckt, dass es auch noch eine andere Jugendkultur gibt als Glatze, Alk und Ausländerbashing. Manche Eltern seien freilich immer noch nicht 100-prozentig zufrieden, weil ihre Kids jetzt kiffen. "Aber immer noch viel besser als Nazi!"

Bild: screenshot www.boomfestival.org

Quelle: http://www.taz.de/!39122/
Eintrag vom: 07.09.2011